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07.10.2024

„Das Entscheidende ist die Vernetzung“

Die Stadt Flensburg will nachhaltig klischeefrei werden. Die Bücher- und Spielekisten für Kitas mit dem Namen „Vielfalt in der Kiste“ sind nur ein Anfang.

Die Stadt Flensburg, seit 2024 Partnerorganisation der Initiative Klischeefrei, richtet ihre Arbeit mit Kindern und Jugendlichen seit einigen Jahren klischeefrei aus. Ein Beispiel, wie das gelingen kann, ist das Projekt „Vielfalt in der Kiste“. Welche drei wesentlichen Faktoren führten zum Erfolg?

„Das Entscheidende ist die Vernetzung“
Stabile Holzkisten für Bücher und Spiele

Flensburger Kitas und Horte konnten sich im Jahr 2021 über eine klischeefreie Materialkiste freuen. Zusammengestellt wurde sie vom Kinder- und Jugendbüro und von der Schulsozialarbeit der Stadt Flensburg. 66 Kita-Kisten wurden insgesamt verteilt und zwar mit dem Ziel, Kindern auch in Büchern und Spielen zu zeigen, wie normal Vielfalt ist. „Überall, wo wir Wirklichkeit konstruieren, wollten wir diese diversitätssensiblen Materialien haben“, erklärt einer der Initiatoren der Aktion, Alan Brückner, damals Mitarbeiter im Kinder- und Jugendbüro und heute Teamleiter Team Süd der Schulsozialarbeit in Flensburg.

Vielfalt in der Kiste

Die Kita-Kisten enthalten insgesamt 18 Kinderbücher, die Vielfalt thematisieren, darunter „Der Junge im Rock“ von Kerstin Brichzin oder „Du gehörst dazu. Das große Buch der Familien“ von Mary Hoffmann und Ros Asquith, darüber hinaus Miniland-Figuren (Figuren mit Behinderung und Figuren Familie of Color), ebenso Hautfarben-Buntstifte sowie Spiele. Kisten für dänischsprachige Kitas enthalten entsprechende dänische Bücher. Fester Bestandteil sind außerdem die Methodensets „Klischeefrei fängt früh an“ der Initiative Klischeefrei. Insgesamt umfasst die Kiste Materialien im Wert von rund 340 Euro. Das Kinder- und Jugendbüro und die Schulsozialarbeit entwickelten dazu eine begleitende Arbeitshilfe für Kitas mit Beschreibungen der Materialien, wichtigen Adressen und Websites für weitere Informationen sowie die Ziele, die u.a. mit den Bücher- und Spielkisten erreicht werden sollen.

Doch die Kitas und Horte erhielten nicht nur diese Kiste. Die Stadt bot außerdem Workshops für pädagogische Fachkräfte an – obwohl dies eigentlich nicht in die Zuständigkeit des Kinder- und Jugendbüros fiel. Der Bedarf war jedoch da, und den Initiatoren und Initiatorinnen war es wichtig, die Kitas ins Boot zu holen und für Vielfaltsthemen zu sensibilisieren. „Es reicht meistens nicht aus, gute Materialien zur Verfügung zu stellen“ beschreibt Dörte Geisler, Leiterin der Kindertagesstätte „Schwedenheim“ ihre Erfahrungen. „Gerade beim Thema geschlechtliche Vielfalt ist es wichtig, Erzieherinnen und Erzieher den Sinn und die Einsatzmöglichkeiten einer solchen Kiste zu erläutern. Wir haben alle Stereotype im Kopf, und es hilft, sich im Rahmen eines Workshops damit zu beschäftigen. Das gibt Sicherheit im Arbeitsalltag. Dass es dieses Angebot der Stadt gab, hat uns sehr geholfen.“ Ende 2024 will die Stadt evaluieren, wie die Materialien eingesetzt wurden und welche Erkenntnisse die Fachkräfte an den Kitas dadurch gewonnen haben.

Finanzielle Mittel mussten her – aber wie?

Die Mittel für die Kita-Kisten kamen aus unterschiedlichen Fördertöpfen. Sie zu akquirieren, brauchte mehr als drei Jahre. Brückner nutzte zum Beispiel Projekt-Gelder, die in der Pandemie-Zeit nicht abgerufen werden konnten, schrieb Anträge an unterschiedliche öffentliche Töpfe wie den Stadtteilfonds „Wir im Quartier“ oder fragte bei der Flensburger Wohnungsbaugesellschaft SBV um Unterstützung an.

Eine Buchhandlung und ein Spielwarengeschäft unterstützten das Projekt, indem sie z.B. die Bestellprozesse für die Materialen übernahmen. Die Herstellung der stabilen Holzkisten für die Materialien wurde kostengünstig vom Jugendaufbauwerk der Stadt Flensburg umgesetzt. Die Einrichtung im Übergang Schule und Beruf bietet berufsqualifizierende Maßnahmen für junge Menschen an, unter anderem gibt es dort eine Holzwerkstatt.

Vernetzung und persönliches Engagement sind die Basis

Möglich war dies alles, weil ein ganzer Arbeitskreis, die „Steuerungsgruppe Diversität“, sich für das Ziel einsetzte und aktiv mitarbeitete, zum Beispiel beim Beantragen der finanziellen Mittel durch Mitarbeitende der offenen Kinder- und Jugendarbeit. Die Steuerungsgruppe besteht aus Fachkräften aus diversen Institutionen in öffentlicher und freier Trägerschaft in Flensburg, deren Zielgruppen Kinder und Jugendliche sind. Ziel dieser Gruppe ist es, die reale Vielfalt der Menschen in Flensburg positiv hervorzuheben sowie Chancen und Potenziale daraus aufzuzeigen. In diesem Sinne sind die Vielfaltskisten zu verstehen. Alan Brückner ist sich sicher: „Das Entscheidende für den Erfolg ist die Vernetzung“.

Doch bis der Erfolg eintrat, brauchte es einen langen Atem. „Nerviges Gestöhne“ sei ihm entgegengeschlagen, sagt Brückner, als seine Kollegin und er 2017 erstmals vorschlugen, mehr zum Thema Geschlecht in der Kinder- und Jugendarbeit zu machen. Andere Themen schienen drängender, vor allem, weil die Stadt bereits Angebote zu Vielfalt in Bezug auf Herkunft und Religion bereitstellte. Beide fanden dennoch, es sei Zeit für das Thema Geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung.

Es war also zunächst einiges an Überzeugungsarbeit notwendig bis 2018 schließlich ein Fachtag für sozialpädagogische Fachkräfte zum Thema „Geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung“ stattfinden konnte. Rund 40 Personen nahmen daran teil. Daraus entstand ein Netzwerk mit Mitgliedern aus vielen sozialpädagogischen Einrichtungen in freier sowie öffentlicher Trägerschaft und noch weitere Akteurinnen und Akteure der Stadtgesellschaft.

Aus diesem Netzwerk ging der Arbeitskreis hervor, der das Ziel hatte und hat, konkrete Angebote für die Praxis zu entwickeln. So kam es zu den Materialkisten.

Politik stärkt den Rücken

Neben der Netzwerkarbeit und dem persönlichen Engagement der Arbeitskreismitglieder nennt Alan Brückner auch den politischen Rückhalt im Stadtrat als weiteren Erfolgsfaktor. Flensburg unterstützt die sogenannte Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt mit einem eigenen Maßnahmenkatalog. Die Förderung der Gleichstellung der Geschlechter ist ein wichtiger Teil der Arbeit, und die Angebote für Kita und Grundschule zählen dazu.

Trotz aller Offenheit für Diversität bleibt es eine Daueraufgabe für alle Beteiligten, immer wieder Bewusstsein für Vielfaltsfragen und Klischees zu schaffen, nicht zuletzt bei pädagogischen Fach- und Lehrkräften. „Ein Diskurs muss gestartet und immer wieder aufrechterhalten werden“, beschreibt Alan Brückner seine Erfahrungen.

Ein Diskurs muss gestartet und immer wieder aufrecht erhalten werden.

Alan Brückner, Mitinitiator des Projekts „Vielfalt in der Kiste“ bei der Stadt Flensburg

Nachhaltig wirken

Aus diesem Grund trat der Arbeitskreis 2021 an die Erzieherinnen-Fachschule heran und führte dort im Vorfeld des achtwöchigen Pflichtpraktikums Sensibilisierungsworkshops mit angehenden Erzieherinnen und Erziehern durch. Auch hier half die Vernetzung: Für die Workshops wurde das Netzwerk SCHLAU SH gewonnen, das Bildung und Aufklärung zu geschlechtlicher und sexueller Vielfalt anbietet.

Im Oktober 2024 werden die Grundschulen eine Diversitäts-Materialkiste erhalten. Inhalte sind unter anderem das Lego-Set „Everyone is awsome“ (Figuren), ein Kartenset „Das komplette Deck“, Hautfarben-Buntstifte mit einem Ausmalbuch, Plakate über die Grundrechte in mehreren Sprachen, elf (deutschsprachige Schulen) bzw. acht (dänischsprachige Schulen) Bücher und das Klischeefrei-Methodenset für Grundschulen.

Das Beispiel Flensburg zeigt: Klischeefreie Kinder- und Jugendarbeit ist kein Selbstläufer. Sie ist aber möglich, wenn unterschiedliche Akteurinnen und Akteure gemeinsam an einem Strang ziehen und die Politik dies mitträgt.

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